Schauplatz: Volkstheater Rostock. Am 25. Februar hat die Rostocker Bürgerschaft über das so genannte „Kooperationsmodell“ abgestimmt und ein „funktionelles Vierspartentheater“ beschlossen (s. unsere Meldungen auf www.vdoper.de). Mit dem Intendanten des Volkstheaters, Sewan Latchinian, dem Kaufmännischen Geschäftsführer, Stefan Rosinski, sowie dem stellvertretenden Geschäftsführer der VdO, Gerrit Wedel, führte Barbara Haack zwei Tage danach ein Interview für die Zeitschrift „Oper & Tanz“, das wir hier vorab veröffentlichen.
Oper & Tanz: Zwei Tage nach dem Bürgerschafts-Beschluss: Ist da schon das letzte Wort gesprochen? Gibt es noch Spielräume? Geht der Kampf weiter? Oder sagen Sie: Das war’s jetzt?
Stefan Rosinski: Der Bürgerschaftsbeschluss enthält einen Terminplan: Kulturminister und Oberbürgermeister koordinieren zunächst den Finanzrahmen, der für die nächsten Jahre gelten soll. Der Beschluss selbst verweist auf das Szenario 3 des actori-Gutachtens. Darin ist schon genau abgebildet, wie und in welcher Größenordnung der Personalabbau Jahr für Jahr zu erfolgen hat. Wenn das Fine-Tuning von Ministerium und Stadt vorliegt, wird die Theater-Geschäftsführung aufgefordert, ein Umsetzungs-Szenario zum Personalabbau zu erarbeiten. Dieses Szenario soll der Bürgerschaft zum 9. September zur Kenntnisnahme vorgelegt werden. Dann erst kann und muss der so genannte Unternehmer-Beschluss gefasst werden, der die Rechtsgrundlage darstellt für unser Handeln in Bezug auf Personalabbau.
Sewan Latchinian: Insofern haben wir noch Zeit. Wichtig ist, dass wir als Theater diese bittere Enttäuschung über diese verheerende Entscheidung einer offensichtlich überforderten Bürgerschaft erst einmal verarbeiten. Viele Kollegen und Freunde haben uns geraten, unseren Job aus Protest niederzulegen. Das haben wir beide für uns erst einmal anders entschieden. Wir kämpfen an der Seite unserer Belegschaft weiter. Wir werden jetzt versuchen, die Überschrift über der Beschlussvorlage, die nämlich zynischerweise „Bürgerbeteiligung am Volkstheater Rostock“ hieß, mit Leben zu füllen und auf alle möglichen Formen der Bürgerbeteiligung abzuheben. Wir finden es sehr sympathisch, dass eine Initiative ein Bürgerbegehren erwägt. Wir werden weiter mit unserem wichtigsten Argument guter Kunst zu punkten versuchen, um die Akzeptanz des Volkstheaters zu erhöhen.
Mit dem Dilettantismus der Beschlussvorlage ist auch so manche Chance verbunden. Der Begriff des „funktionellen Vierspartentheaters“ ist vielleicht ein Glück im Unglück. Ein funktionelles Vierspartentheater gibt es noch nirgendwo, wir können es miterfinden. Hoffentlich einigen wir uns zum Schluss auf das, was wir schon immer wollten: auf ein funktionierendes Vierspartentheater.
Rosinski: In Erfüllung unserer Dienstverträge, die uns anhalten, für das Wohl der Gesellschaft zu wirken, reagieren wir auf eine Beschlusslage, von der wir der Meinung sind, dass sie mittelfristig nicht haltbar ist. Wir glauben, dass sie sogar letztlich zum massiven Schaden sowohl für die Hansestadt Rostock als auch für die Gesellschaft führt, und zwar betriebswirtschaftlich wie künstlerisch. Es gibt einen alternativen Weg. Der Weg, der dagegen hier eingeschlagen werden soll, wird unter Umständen am Ende in den totalen Exit führen und nicht in ein „Funktionshaus“.
Gerrit Wedel: Ich teile die Meinung, dass in diesem Begriff auch eine Chance besteht. Nach meinem Eindruck hat in der Bürgerschaft der Gedanke vorgeherrscht, man würde hier tatsächlich vier Sparten eigenständig erhalten. Insofern ist so eine Begrifflichkeit eine Täuschung, aber auch eine Chance.
O&T: Allerdings ist doch im Vorfeld dieser Entscheidung bereits sehr viel passiert. Die Menschen in dieser Stadt haben sich für ihr Theater eingesetzt und Sie selbst haben mit überzeugenden Argumenten versucht, Klarheit und Transparenz zu schaffen. Das ist aber bisher offenbar nicht gelungen. Wie versuchen Sie bis zum 9. September einen Weg zu finden, tatsächlich zu überzeugen? Was machen Sie ab jetzt anders?
Latchinian: Wir haben alle viel getan, aber tatsächlich noch nicht genug. Ich habe wirklich an eine Art kollektive Weisheit der Bürgerschaft geglaubt. Ich war da in manchem noch zu naiv. Insofern sind wir jetzt alle zusammen in einer knallharten Realität angekommen, die eine Eigendynamik entwickeln könnte, auf der Seite der Bürger, aber auch auf unserer Seite. Wir wissen jetzt ganz genau, wo die Frontlinie dieses Kulturkampfes verläuft, wer Freund, wer Feind ist. Es war eine namentliche Abstimmung. Ich dachte bei einigen immer: Wir müssen gar nicht darüber reden, wir sind uns einig. Dass die plötzlich ihre Hand gegen uns erheben – vielleicht tatsächlich wider besseres Wissen oder auch mit Missverständnissen – war ein heilsamer Schock.
Rosinski: Wie gelingt es jetzt, das Blatt zu wenden? Da sehe ich zwei Aspekte. Auffällig ist, dass in mehreren Redebeiträgen in der Bürgerschaft das mangelnde Engagement der Menschen auf der Straße kritisiert wurde. Die Politiker haben augenscheinlich das Gefühl, dass sie bei ihrer Entscheidung keine große zivilgesellschaftliche Gegenbewegung außerhalb des Theaters fürchten müssen. Zudem hat der CDU-Fraktionschef von einer „Enterdung“ des Theaters aufgrund der mangelhaften Einnahmequote gesprochen. Diese Verbindung zwischen der Legitimitätsfrage des Theaters und einem quantifizierten Nachfragemarkt ist eine Form der ökonomisierten Betrachtung von Theater und Kultur. Das scheint heute das letzte noch verbliebene kulturpolitische Referenzmodell in der Theaterdebatte zu sein.
Auf jeden Fall ist es wichtig, dass die Menschen der Stadt sich in der Theater-Frage öffentlich engagieren. Ob das gelingt? Das bleibt abzuwarten, denn die Abstimmung für Kulturangebote scheint eher mit den Füßen zu geschehen, die sich ins Theater bewegen, mit den 120.000 Karten, die wir im Jahr verkaufen, als mit dem Schild in der Hand auf dem Marktplatz. Die Saalauslastung interessiert die Politiker zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr, denn nun geht es um eine politische Entscheidung und deren Durchsetzbarkeit.
Die zweite Option ist, an die Abgeordneten der Bürgerschaft heranzutreten und Überzeugungsarbeit zu leisten. Darzustellen, dass es um einen Verlust geht, der qualitativ und nicht nur quantitativ in seinen betriebswirtschaftliche Risiken diskutiert werden muss: In welcher Tradition stehen wir? Was hat das für unsere Identität als Stadtgesellschaft zu bedeuten? Welchen Mehrwert hat Kultur für Heranwachsende und Familien? Das wird eine schwere Diskussion vor dem Hintergrund der Debatte, die wir jetzt in der Bürgerschaft erlebt haben. Bazon Brock hat mir gegenüber einmal scherzhaft gemeint, wir sollten in Rostock doch Christoph Schlingensiefs Opernhaus-Modell errichten, denn Mecklenburg-Vorpommern sei das eigentliche kulturpolitische Afrika Deutschlands…
Latchinian: Wir baden hier auch Erosionsprozesse aus, die zum Teil schon in der DDR begonnen haben und sich jetzt seit über 25 Jahren fortsetzen. Stefan Rosinski hat drei Jahre lang an seiner Front gekämpft und das Haus wirtschaftlich konsolidiert. Auch meine künstlerische Arbeit des letzten Jahres war positiv. Aber wir können diesen Erosionsprozess von über 25 Jahren in so kurzer Zeit nicht kippen.
Wedel: Bei allen Konsolidierungsbemühungen müssen Sie sich allerdings auch einen Vorwurf gefallen lassen: Haben Sie nicht den Weg selbst geebnet durch den Ausstieg aus dem Bühnenverein, durch die Ablösung von der Tarifbindung? Das mag Ihnen zwar auf der einen Seite die Möglichkeit eingeräumt haben, Überschüsse zu erwirtschaften. Auf der anderen Seite ist es jetzt aber auch dadurch zur Falle geworden, dass die Rückkehr zur Fläche gefordert wird und dadurch eine Lücke entstanden ist, die politisch nun wieder ausgenutzt wird. Der Beschluss in der Bürgerschaft wurde ja unter dem Vorwand der Finanzierung getroffen.
Rosinski: Bis zu unserem Austritt aus dem Bühnenverein mussten wir von der Politik ständig hören, dass Konsolidierungsmaßnahmen vorzunehmen seien, weil die Flächentarife selbstverständlich nicht kompensiert werden könnten. Da gab es einen enormen Druck. Die Mitglieder der Bürgerschaft, der Oberbürgermeister, der Kulturminister, alle haben das nahe gelegt. In der Konsequenz hat die Bürgerschaft schließlich den Austritt aus dem Bühnenverein beschlossen, und wir haben einen alternativen Vorschlag gemeinsam mit den Gewerkschaften erarbeitet. Doch jetzt heißt es plötzlich: Alle Maschinen auf Stopp und Marsch zurück. Der Eindruck lässt sich nicht vermeiden, dass hier offenbar nach Strategien gesucht wird, die Latte immer wieder nach oben zu ziehen. Es geht wohl um eine grundsätzliche Strukturentscheidung ; denn das wird immer wieder gesagt: Ein Vierspartentheater sei zu groß für diese Hansestadt.
Wedel: Meines Erachtens war dieser Austritt eine überhastete Entscheidung. Wir hätten damals hier am Tisch zu einem Ergebnis kommen können und hätten dann einen starken Partner weiter im Boot gehabt. Wir haben doch seit Jahren über Lösungen nachgedacht, die sich von den Tarifen möglicherweise ein bisschen entfernen – so, wie wir es auch an vielen anderen Orten getan haben. Wir waren hier schon so weit, funktionsfähige Alternativmodelle zu entwickeln. Warum haben Sie sich außerstande gesehen, diese Gespräche zum damaligen Zeitpunkt zum Ziel zu führen?
Rosinski: Es gab damals keine politische Mehrheit. Das hing an der Frage des Orchesters. Das Angebot des Orchesters wurde als unzureichend empfunden. Der Bühnenverein hat auch keine Chancen gesehen, das entsprechend der politischen Erwartungen zu verhandeln.
Wedel: Nichtsdestotrotz gibt es einen Tarifvertrag für das Orchester. Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, dass es nicht möglich ist, die von uns vorgeschlagenen Konzepte zu verfolgen: ähnlich wie in Schwerin in Anlehnung an den Tarifvertrag einen Weg zu finden, der eine ernsthafte funktionsfähige und finanzierbare Alternative darstellt.
Latchinian: In dem Fall sitzen wir aber nun seit mehreren Monaten in einem Boot. Wir wollen das gleiche und müssen jetzt Wege dafür finden. Wir würden gern allen unseren Mitarbeitern Flächentarif zahlen. Wir haben aus sozialer Verantwortung erst einmal die Wege beschritten, die wir beschreiten mussten. Aber jetzt wollen wir gern gemeinsam mit den Gewerkschaften so viel Flächentarif wie möglich herausholen, aber auch die vier Sparten und alle Arbeitsplätze bewahren.
Wedel: In der Beschlussvorlage steht, man wolle keine betriebsbedingten Kündigungen vornehmen. Ich habe im Anschluss an die Bürgerschaftssitzung den Oberbürgermeister konkret gefragt, ob das auch für die Beendigung von künstlerischen Arbeitsverhältnissen gilt. Er hat darauf ausweichend geantwortet, im künstlerischen Bereich gälten ja andere arbeitsrechtliche Voraussetzungen. Für mich war das nichts anderes als die Ankündigung, man wolle hier in jedem Falle betriebsbedingte Beendigungen von Arbeitsverhältnissen schaffen. Das kann aber doch nicht der Wille der Bürgerschaft gewesen sein.
Latchinian: Die haben das billigend in Kauf genommen.
Wedel: Das heißt, dass Sie beide jetzt Konzepte erarbeiten müssen, die genau diese Abschaffung der Arbeitsverhältnisse vorsehen.
Rosinski: Davon gehe ich aus. Das actori-Papier hat im Anhang eine klare Agenda, wie dieser Personalabbau erfolgen soll: In 2017 sollen die Personalkosten bereits um 1,67 Millionen gesenkt worden sein. 47 Vollstellen wären dann abgebaut. Diese Stellen würden den gesamten Tanz- und Musiktheaterbetrieb vollumfänglich betreffen; von einem „Kooperationsmodell“ kann dann nicht mehr die Rede sein. Wir sprechen hier noch nicht von den klassischen betriebsbedingten Kündigungen, sondern von Nicht-Verlängerungen aus betriebsbedingten Gründen. Ohne diese ließe sich das Finanzziel, das dem in der Bürgerschaft gefassten Beschluss zugrunde liegt , überhaupt nicht realisieren.
Latchinian: Deshalb finden wir den Beschluss ja falsch. Wir wollen ihn kippen. Sicher werden wir erst einmal Zuarbeiten leisten. Aber dass wir diesen Beschluss kreativ unterstützen werden, davon kann niemand ausgehen.
O&T: Das heißt: Sie schreiben jetzt ein Umsetzungskonzept und gehen davon aus, dass es nicht angenommen wird?
Rosinski: Wir untersuchen ein Umsetzungskonzept, von dem wir selber noch nicht genau wissen, was deren Ergebnis ist. Actori hatte Prämissen und Zahlen aus 2013 zugrunde gelegt. Vielleicht sind es ja nicht 80, sondern 120 Stellen, die wir zur Erreichung der Finanzvorgaben abbauen müssten. Ist das dann immer noch der politische Wille? Das wissen wir ja heute noch gar nicht. Erst wenn der ganze Sachverhalt in letzter Konsequenz geklärt ist, wird jeder für sich entscheiden müssen: Will ich Teil davon sein? Oder verlasse ich das Haus? Aber vorher müssen wir das seriös durchprüfen. Wenn es deutlich mehr Stellen sind, reden wir nicht mehr über Spartenschließungen; das ginge dann tief ins Gefüge des Hauses.
Latchinian: Wir nehmen diesen Beschluss also nicht ernst, aber wir nehmen ihn wörtlich. Wir spielen ihn mit zusammengebissenen Zähnen rechnerisch und künstlerisch durch in der festen Überzeugung, dass das die Grundlage wird für eine Arbeitsebene, auf der von allen Beteiligten ganz sachlich festgestellt werden kann: So geht es nicht.
O&T: Haben Sie den Eindruck, dass ein noch tieferer Einschnitt, wie Sie ihn gerade skizziert haben, von politischer Seite intendiert ist?
Rosinski: Zunächst gab es eine merkliche Erleichterung nach dem Beschluss. Aber am Morgen danach, das ist spürbar an gewissen informellen Resonanzen, kratzt sich schon der eine oder andere den Kopf: Welchem Beschluss habe ich da gestern eigentlich zugestimmt! Dass das Stück für Stück zu Bewusstsein kommt, was da eigentlich mit welchen Konsequenzen passiert ist , das ist ein wichtiger Vorgang.
O&T: Sie haben allerdings der Bürgerschaft im Vorfeld des Beschlusses Argumente und Zahlen präsentiert, die man eigentlich nicht ignorieren konnte.
Rosinski: Der Entscheidungsdruck war zu massiv, weil es nicht nur um Rostock ging, sondern um die Landespolitik. Diesem politischen Druck konnten sich die Abgeordneten im Moment der Beschlussvorlage nicht entziehen.
Wedel: Das lässt aber doch an den demokratischen Strukturen zweifeln: dass hier gar kein Raum mehr gegeben wird, sich mit den sachlichen Argumenten wirklich auseinander zu setzen. Das muss doch auch Wellen über Rostock hinausschlagen. Das kann doch auch die Bundespolitik nicht unkommentiert lassen.
Latchinian: Es ist zum Teil sicher schon in der Bundespolitik angekommen. Sehr vielversprechend ist ja, dass Altbundestagspräsident Wolfgang Thierse seinen Parteigenossen Brodkorb öffentlich gerüffelt hat. Auch in der Diskussion um den Theater-Neubau, die ja bisher reduziert wird auf die Kommune und das Land, gibt es Signale, dass der Bund eventuell mit einsteigen könnte. Das würde das Erpressungspotenzial des Kulturministers in Sachen Neubau schon wieder stark relativieren.
O&T: Welche Rolle spielt denn die Landespolitik, welche Rolle spielt Kulturminister Brodkorb?
Rosinski: Er war sehr fleißig. Er war, wie wir hören, mehrfach in allen Fraktionen vorstellig. Er hat keine Scheu, auch einzelne Personen anzurufen und mit ihnen das Gespräch zu suchen.
Wedel: Leider stellt er sich nicht der Diskussion in der Öffentlichkeit. Er hat gerade aktuell seinen Besuch in Neustrelitz abgesagt, wo am 9. März eine Demonstration stattfinden soll. Er hat offenbar nicht den Mumm, sich dem zu stellen.
Rosinski: Auch die Ostsee-Zeitung hat mehrfach versucht, mit ihm hier ein Diskussionsforum zu organisieren. Das hat er jedes Mal abgesagt. Er nimmt in dem hiesigen Machtspiel eine ganz wesentliche Rolle ein. Und er hat einen starken Rückhalt durch den Ministerpräsidenten. Der Kulturminister könnte sich sonst mit seiner Position nicht so weit durchsetzen.
O&T: Sie haben von einem alternativen Weg gesprochen. Wie könnte der, wirtschaftlich wie künstlerisch, aussehen?
Rosinski: Dazu muss man eines wissen: Was uns hier wirklich das Genick bricht, ist gar nicht die Frage: Flächentarif oder nicht? Maßgeblich in dem vorliegenden Rechenmodell ist die gewaltige Neubaumiete, die gar keine Neubau-Miete ist, sondern eine Refinanzierungszahlung, die nach dem Zahlenmaterial auch dann erfolgt, wenn es diesen Neubau noch gar nicht gibt. Das Volkstheater soll ab 2018 einen Betrag von 2,46 Millionen Euro aus seinem Budget an Stadt und Land in gleichen Teilen zur Refinanzierung der Investitionskosten zahlen. Die sollen zukünftig in den 18 Millionen-Zuschuss eingerechnet werden. Wir haben es nicht geschafft, den Zuschuss für den laufenden Betrieb von dieser neuen Baufinanzierung zu trennen.
Wedel: Das ist ganz eindeutig eine Kürzung des Zuschusses.
Latchinian: Deshalb müssen wir für andere Modelle werben. Es gibt ja in anderen Städten, in anderen Bundesländern andere Modelle, wie eine Sanierung oder ein Neubau finanziert werden kann.
Rosinski: Diese 2,46 Millionen aus unserem Budget können wir nicht konsolidieren. Wenn sich in dieser Frage hier in Rostock nichts tut, können wir auch kein alternatives Modell anbieten. Das ist eine Goodwill-Frage. Und die ist nur politisch lösbar.
Latchinian: Unser Solidarmodell, das wir dem Kooperationsmodell entgegensetzen könnten, sieht so aus: Akzeptanz der Deckelung der Zuschüsse auf 16,6 Millionen bis 2019; eine vorsichtige Tarifdynamisierung von 1,5 Prozent; Beibehaltung aller Stellen und Sparten; Steigerung der Akzeptanz beim Publikum durch künstlerische Erfolge; dadurch eine Erhöhung der Einnahmen; eine Ermöglichung von Sponsoring, was jetzt komplett unmöglich ist, weil sich niemand in dieser Krise das Image des Volkstheaters in die Firma holt.
O&T: Wie sehen die künstlerischen Ideen bis 2018 aus?
Latchinian: Wir haben damit begonnen, ein künstlerisches Konzept zu realisieren, von dem wir schon relativ viel in relativ kurzer Zeit sichtbar gemacht haben. Dabei geht es darum, sehr viel mehr spartenübergreifend zu produzieren, alle Sparten gleich zu behandeln und zwei zusätzliche Sparten zu etablieren, nämlich das Figurentheater und die Bürgerbühne. Es geht darum, künstlerisch ambitionierter und gesellschaftlich relevanter zu arbeiten. Es hat auch mit einer höheren Zahl von Premieren und Formaten zu tun, mit mehr Wagnissen, Experimenten, Ur- und Erstaufführungen. Es hat mit einer Steigerung der Qualität aller Künstler zu tun: derer in den einzelnen Ensembles und derer, die als Gäste bei uns arbeiten. Wir wollen viel mehr in die Stadtgesellschaft hineingehen, uns mehr vernetzen mit all den identifikationsstiftenden Knotenpunkten in der Stadtgesellschaft. Es hat etwas zu tun mit neuen Spielstätten innerhalb der Stadt. Wir haben zum Beispiel eine Inszenierung im Bunker, ein Projekt in der Brauerei realisiert. Wir spielen in der Straßenbahn…
Wichtig ist auch die pädagogische und bildungspolitische Aufgabe dieses Theaters. Die ist nur mit einem Apparat zu meistern, der vollständig ist.
Wedel: Das Rostocker Theater hat auf der pädagogischen Ebene auf vorbildliche Weise ein Programm angestoßen, das jetzt gerade anfängt Fuß zu fassen. Das wäre zum Scheitern verurteilt.
Rosinski: Uns wird ja von der Politik in der Stadt, aber auch von Mathias Brodkorb, permanent vorgeworfen, wir seien nicht erfolgreich. Das wird an der Zahl der Zuschauer gemessen. Die Eigenquote sei hier schlechter als in Schwerin, wir würden hier deutlich weniger Zuschauer erreichen. Das hat allerdings mit der räumlichen Situation zu tun. Wir haben ja nur eine einzige große Bühne, das eine Haus. Wenn wir den Auftrag eines Stadttheaters ernst nehmen, das heißt ein breitgefächertes Angebot zu erstellen, limitiert uns die räumliche Situation so, dass wir weniger Vorstellungsangebote machen können, weil die Räume durch die Endproben belegt sind. Das führt zu einer relativen Überschaubarkeit von Vorstellungszahlen. Je mehr verschiedene Neuproduktionen wir auf dieser einen Bühne anbieten, desto weniger Vorstellungen können stattfinden.
Wedel: Das Konzept sieht vor, dass trotz der künstlerischen Amputationen ein erhebliches Maß an Mehreinnahmen durch das Theater zu erwirtschaften sein soll. Wie kann das gehen, wenn ich nur noch ein Schauspiel habe und ein Riesenorchester, dem die Infrastruktur fehlt, um ausgelastet zu sein?
Rosinski: Das actori-Papier geht davon aus, dass die Jahres-Einnahmen von ca. 770.000 Euro, die heute Schauspiel und Konzert generieren um 830.000 Euro steigen müssten, um das Finanzziel zu erreichen. Als mehr als das Doppelte.
Latchinian: Das sind die Fehler, auf die wir bauen und, die den Bürgerschaftsmitgliedern so nicht klar waren.
O&T: Die Premiere „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ steht unmittelbar bevor. Wie sieht es aus mit der Motivation der Menschen auf der Bühne: Sind die eher frustriert – oder machen sie engagiert weiter?
Latchinian: Sie sind betroffen, aber sie sagen auch: Jetzt erst recht. Das sind ja hier seit 25 Jahren ähnliche Bedingungen, über die man frustriert sein könnte. Aber die Kollegen aller Sparten stemmen auf und hinter der Bühne immer wieder tolle Kunstereignisse. Sie sind Kummer gewohnt, sie sind Tote auf Urlaub, wenn man so will.
Rosinski: Wir hatten gestern [einen Tag nach dem Bürgerschaftsbeschluss, Anm. d. Red.] eine tolle Generalprobe. Vorher gab es eine Vollversammlung, da flossen auch Tränen. Die große Bestürzung, die Wut, der Schock waren spürbar. Dass die Kollegen sich ein paar Stunden später hinstellen und mit dieser Professionalität und diesem Engagement ihre Leistung erbringen, ist bewundernswert.
Wedel: Die Premiere eines Stückes wie „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ stellt sich gerade als recht bezeichnend dar.
Latchinian: Dass es so aktuell auf den Punkt passt, konnten wir nicht ahnen. Aber dass wir dieses Stück auf den Spielplan gesetzt haben, dass wir in der Stadtgesellschaft ein Bewusstsein dafür bilden wollen, wann eine Stadt aufsteigt und wie sie untergeht, das hatte schon auch etwas mit dem Wissen um die Situation in der Hansestadt zu tun.