(PM Nationale Opera & Ballet, Amsterdam)
Hans van Manen war nicht nur über 60 Jahre lang der bekannteste Choreograf der Niederlande, auch international wurde – und wird – er als einer der Großmeister des zeitgenössischen Balletts angesehen. Zugleich war er einer der produktivsten Choreografen: Einschließlich seiner Ballette für das Fernsehen schuf er mehr als 150 Werke, alle versehen mit seiner unverwechselbaren Handschrift. Sein internationaler Ruhm machte ihn zu einem der wichtigsten Botschafter der niederländischen Künste: Weltweit werden seine Choreografien von mehr als hundert führenden Tanzkompanien aufgeführt.
Van Manen wurde 1932 in Nieuwer-Amstel, dem heutigen Amstelveen, geboren. Bereits als Siebenjähriger tanzte er zwischen den Schiebetüren, doch wie oder wo man Tänzer werden konnte, wusste er nicht – der Zirkus schien ihm noch der naheliegendste Ort. 1941 zog er nach dem Tod seines an Tuberkulose erkrankten Vaters mit seiner Mutter und seinem Bruder in die Marnixstraat in Amsterdam. Damit rückte die faszinierende Welt des Theaters plötzlich ganz nah: Wann immer es möglich war, spähte „Hansje“ in die Stadsschouwburg hinein. 1946 erhielt er dort die Gelegenheit, als Lockenjunge für den Maskenbildner und Theaterfriseur Herman Michels zu arbeiten. Dieser beauftragte ihn 1950, bei einer Veranstaltung auf dem Dam die Perücken und das Make-up zu betreuen. Als Van Manen dort den Tänzer Jaap Flier beobachtete, war es um ihn geschehen. Über Flier kam er zu Sonia Gaskell, die ihm seinen ersten Ballettunterricht erteilte und ihn 1951 in ihre Gruppe Ballet Recital aufnahm. Ein Jahr später wechselte er zum Ballett der Niederländischen Oper unter der Leitung von Françoise Adret. Seine erste Choreografie, Olé, Olé, la Margarita, schuf Van Manen 1955 für die Show von Ramses Shaffy. Es folgte Swing für das Scapino Ballet, und bereits für seine dritte Kreation, das 1957 für das Ballett der Niederländischen Oper entstandene Feestgericht, wurde er mit dem Staatspreis für Choreografie ausgezeichnet.
Getrieben von Abenteuerlust ging Van Manen 1959 nach Paris, wo er bei Roland Petits Les Ballets de Paris engagiert wurde. Dort tanzte er mit großen Stars wie der flamboyanten Zizi Jeanmaire und der Hollywood-Diva Cyd Charisse und lernte seine große Liebe und spätere Muse Gérard Lemaître kennen.
Bereits kurz zuvor hatte er De maan in de trapeze für das Eröffnungsprogramm des gerade gegründeten Nederlands Dans Theater geschaffen. 1960 kehrte er gemeinsam mit Lemaître in die Niederlande zurück, und beide schlossen sich dem jungen Ensemble an. Wenig später wurde Van Manen neben Benjamin Harkarvy zum Co-Künstlerischen Leiter ernannt – eine Position, die er mehr als zehn Jahre lang innehatte.
Der Wunsch nach Veränderung sowie persönliche Schwierigkeiten führten dazu, dass er in den folgenden Jahrzehnten mehrfach zwischen den beiden wichtigsten Tanzkompanien der Niederlande wechselte. 1973 trat er in den Dienst des Nationalballetts, wo er bis 1987 als Hauschoreograf wirkte. Von 1988 bis 2003 war er erneut mit dem Nederlands Dans Theater verbunden, bevor er 2005 wieder zum Nationalballett zurückkehrte, wo er bis zu seinem Tod die Funktion des Senior-Choreografen ausübte.
Der Wechsel zwischen beiden Ensembles – und damit auch der unterschiedliche Einsatz der Spitzentechnik in seinen Choreografien – habe, so erklärte er selbst, großen Einfluss auf die Entwicklung seines Tanzvokabulars gehabt und immer wieder neue, logisch aufeinanderfolgende künstlerische Blütephasen hervorgebracht.
Doch es gibt auch etwas, das sich in den 66 Jahren zwischen seiner ersten und letzten Choreografie nicht verändert hat: sein unverkennbar eigener Stil. Klarheit der Struktur, raffinierte Einfachheit und eine Abneigung gegen überflüssigen dekorativen Zierrat sind dessen Kernelemente. Oder, wie er selbst sagte: „Ich strebe in meinen Balletten nach immer weniger Bewegung. Jeder Schritt zu viel muss weg.“
Obwohl Van Manen selbst oft betonte, dass „Tanz nichts anderes als Tanz ausdrückt“, lassen sich seine Ballette letztlich nur teilweise als abstrakt bezeichnen. Sie handeln nämlich – wenn auch ohne anekdotisch zu werden – immer von Menschen. Zwischenmenschliche Beziehungen werden messerscharf dargestellt, und mit einem einzigen Blick oder einer Handbewegung wusste Van Manen eine ganze Welt von Gefühlen und Emotionen hervorzurufen. Der bedeutende deutsche Tanzkritiker Jochen Schmidt beschrieb Van Manens Ballette einmal als „auf das Wesentliche reduzierte choreografische Kunstwerke, die dennoch von Gefühlen, Konflikten und den Spannungen unserer Zeit durchdrungen sind“.
Dabei geht der Tanz – Bewegungen, die mit fotografischer Präzision im Raum platziert sind – stets eine magische Verbindung mit der Musik ein. Obwohl Van Manen keine Noten lesen konnte, verstand er es wie kein anderer, Details, Nuancen und Übergänge, die in einer Partitur verborgen liegen, in Bewegung sichtbar zu machen und den von ihm verwendeten Kompositionen oft eine zusätzliche Ebene hinzuzufügen.
Erhielt er für all dies in den ersten Jahrzehnten seiner Karriere vor allem in den Niederlanden und in Deutschland große Anerkennung, so wurden im Laufe der Zeit auch führende Ballettensembles weltweit von seiner Meisterschaft überzeugt. Neben dem Nationalballett, dem Nederlands Dans Theater und Introdans – den drei niederländischen „Hütern“ des Van-Manen-Repertoires – werden seine Choreografien inzwischen von mehr als hundert ausländischen Tanzkompanien aufgeführt. Dazu zählen renommierte Ensembles wie das Stuttgarter Ballett, das Staatsballett Berlin, das Wiener Staatsballett, das Zürich Ballett, das Ballett der Opéra national de Paris, das Birmingham Royal Ballet, das San Francisco Ballet, das Alvin Ailey American Dance Theater, das Philadelphia Ballet, das Houston Ballet, das Nationalballett von Japan sowie – bis zur russischen Invasion in der Ukraine – auch das Mariinski-Ballett in St. Petersburg und das Bolschoi-Ballett in Moskau.
Der Tanz war, wie Van Manen selbst einmal sagte, sein „Vaterland“, und die Zusammenarbeit mit den Tänzern im Probenstudio seine größte Triebfeder. Zu seinen wichtigsten „Tanzmusen“ beim Nederlands Dans Theater und beim Nationalballett gehörten (in chronologischer Reihenfolge) Gérard Lemaître, Marianne Sarstädt, Alexandra Radius und Han Ebbelaar, Coleen Davis, Rachel Beaujean, Fiona Lummis, Sol León, Sabine Kupferberg, Igone de Jongh und Olga Smirnova. Unter den vielen ausländischen Tänzern, mit denen er zusammenarbeitete, befanden sich Weltstars wie Anthony Dowell, Marcia Haydée, Natalia Makarowa, Rudolf Nurejew, Uljana Lopatkina und Diana Wischnjowa.
2014 schuf Van Manen seine letzten vollständig neuen Werke: Dances with Harp für das Nationalballett und Alltag für das deutsche Ballett am Rhein. 2019 erarbeitete er eine Bearbeitung des erstgenannten Balletts unter dem Titel Dances with Piano, für die er einen neuen Teil choreografierte.
Bis zu seinem Tod blieb er jedoch im Probenstudio aktiv, wo er bei Einstudierungen seiner Werke auf unvergleichliche Weise den letzten Schliff gab. Er selbst nannte das Regie führen: „Nicht mit dem Ziel, alle Ohren und Nasenflügel in die gleiche Richtung zu bekommen, darum geht es mir überhaupt nicht. Es geht um musikalisches Regieführen, emotionales Regieführen, darum, wie man miteinander umgeht, wohin der Blick gerichtet sein muss, wo man vielleicht kurz innehalten sollte (…) Es ist wie beim Klavierspiel: Die Noten bleiben gleich, aber es kommt auf die Interpretation an.“
Für seine einzelnen Ballette und für seine große Bedeutung für die Künste insgesamt erhielt Van Manen zahlreiche bedeutende Auszeichnungen, darunter den Erasmuspreis, den Prix Benois de la Danse – Life Achievement Award, den Grand Prix à la Carrière, den VSCD-Oeuvrepreis, den Lifetime Achievement Award der deutschen Zeitschrift tanz und – worauf er besonders stolz war – den Deutschen Musikpreis für seine geniale Musikalität. Während des Hans-van-Manen-Festivals, das das Nationalballett 2007 anlässlich seines 75. Geburtstags organisierte, wurde der Meisterchoreograf zum Kommandeur im Orden des Niederländischen Löwen ernannt. 2017 folgte die Ernennung zum Kommandeur des französischen Ordre des Arts et des Lettres, und 2018 erhielt er aus den Händen von König Willem-Alexander die Ehrenmedaille für Kunst und Wissenschaft des Hausordens von Oranien – aufgrund „seines enormen Beitrags zu den Künsten in den Niederlanden und insbesondere zum Ballett“.
Mit der Gründung der Hans-van-Manen-Foundation übertrug Van Manen 2021 die Verwaltung seines gesamten Œuvres an das Nationalballett. Die Stiftung – unter der Leitung von Rachel Beaujean – ist damit für die Einstudierung und Verbreitung seines choreografischen Werks sowie für die Wahrung der Qualität dieses niederländischen Kulturerbes verantwortlich. Die Rechte an den Balletten verbleiben vorerst bei Van Manens Ehemann Henk van Dijk.
Text: Astrid van Leeuwen
Foto: Jan Willem Kaldenbach








